Das nicht mehr geführte Telefonat

Sicherlich hätten wir heute telefoniert. Vielleicht gerade jetzt. Und nach den üblichen Glückwünschen und anderen Floskeln hätte wahrscheinlich einer gefragt: Sag‘ mal, was hältst du von …. Shit happens. Aber wenn ich mal gehe, wenn ich dann gehen muss, dann bitte so wie sie: Abends ins Bett und morgens nicht mehr aufwachen.

Wahrscheinlich hätten wir über das zurzeit alles beherrschende Thema gesprochen.
So belesen wie sie war und mehrerer Sprachen mächtig, hätte auch sie mir (wie mein Freund S.) wahrscheinlich erzählt, dass die britische BBC das Verhalten Deutschlands und die Bedenken von Scholz bzw. der SPD wegen des Erbes der Nazi-Zeit besser erklärt, als ARD, ZDF, SPD und das Kanzleramt zusammen.
Oder dass die Spanische El País an die Operation Barbarossa 1941 erinnert und deshalb Entscheidungen des deutschen Kanzlers Scholz ein Höchstmaß an Umsicht und Konsens erfordern: Alemania aplaza la decisión sobre los tanques Leopard-2 para lograr un acuerdo común con los aliados – das kann nicht nur in der Verantwortung Deutschlands liegen, sondern in der Verantwortung aller. Eben diese Einigung versucht Scholz hinzukriegen (Danke an Herrn D. für den Link und die Übersetzung).

Wahrscheinlich hätte sie auch vom wichtigen Blick über den medialen Tellerrand geredet – und dass wir mit dem wissen, Stand heute, dass es diese Einigung für die Lieferung von Kampfpanzern à la Leopard 2 an die Ukraine nicht gibt. Nicht in der EU, nicht in der NATO, und dass die angekündigte Leopard-Koalition der Polen nur deren Wunschdenken ist, mit Polen, wie gesagt Stand heute, als alleinigem Koalitionär. Blickt man allerdings nur in die deutsche Medienlandschaft, darf man den Eindruck gewinnen, Deutschland würde sich mit Kanzler Scholz isolieren und die Ampel-Koalition wäre wegen der ständigen Kritik aus Reihen der Grünen und der FDP an Bundeskanzler Scholz bzw. der SPD nur noch eine für kurze Zeit – was wiederum das Wunschdenken der CDU/CSU ist.

Mit Sicherheit hätte sie wieder das Buch (Bild links) von Christopher Clark erwähnt – das Thema hatten wir nämlich schon mal und ich habe im April 22 darüber sinniert. Parallelen sind unverkennbar.

Ja, über all das hätten wir uns wahrscheinlich unterhalten – so wie wir die großen Dinge des Lebens und der Geschichte immer für uns durchakadiert haben. Das fehlt mir nun seit ein paar Wochen.

Wenn ich heute für mich allein die Geschehnisse der letzten Tage versuche zu reflektieren, dann gehört zur Wahrheit sicher ebenso, dass von Scholz-Deutschland eine Führungsrolle erwartet wird. Diese Forderung aus den Baltischen Staaten ist allein aus historischen Gründen und wegen der gemeinsamen Grenzen mit Russland mehr als berechtigt. Auch verstehe ich aus diesen Gründen Polen – aber: Zu den Verbalattacken aus Warschau muss man wissen, dass die regierende nationalkonservativ-rechtspopulistische PiS-Partei mit der Stimmungsmache gegen Deutschland versucht im Herbst die Wahlen zu gewinnen. Es sind nicht nur die Leopard-Panzer. Deutschland wird ebenso für das EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen verantwortlich gemacht, Polen fordert 1,3 Billionen Euro Reparationszahlungen von Deutschland für im 2. Weltkrieg entstandene Schäden und gerade vor ein paar Tagen hat der polnische PiS-Ministerpräsident, anlässlich der Feiern zum 60-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrags, vor einer deutsch-französischen Führungsrolle gewarnt. Wie gesagt, im Herbst sind in Polen Wahlen.

Abschließend erlaube ich mir den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn zu zitieren, gestern Abend im ZDF:
„… Es ist ein demokratischer Prozess der stattfinden muss. Ich kann ihnen nur sagen, dass um den Tisch von 27 Deutschland nicht so isoliert ist, wie sie das vielleicht in den deutschen Medien darstellen. Es ist nicht so. Ich will jetzt keine anderen Länder nennen, aber es sind auch andere Länder, große Länder, Grenzländer, die zögern diesen Schritt zu machen. Der Schritt muss gesamteuropäisch gemacht werden. … Es ist, noch einmal, natürlich auch eine Verantwortung von Deutschland, aber ich glaube wirklich, als Europäer, dass das auch eine europäische Verantwortung ist. Und hier muss man zusammen stehen und nicht mit dem Finger auf einen zeigen und dann ihm die ganze Schuld zustellen.“

Nee, bevor ich hier schließe – eine Frage habe ich noch: Wenn Politiker davon sprechen, dass die Ukraine nicht verlieren darf, dass Russland nicht gewinnen darf, dass die Ukraine siegen muss – was ist damit genau gemeint – wo ist die perspektivische Strategie der Unterstützerländer? Die Absicht der Ukraine ist klar, alles zurück auf vor 2014, einschließlich der Krim. Sehen das andere Länder und die deutschen Hofreiters (Grüne), Strack-Zimmermanns (FDP) und Wadepuls (CDU) auch so? Oder nur zurück auf den 23. Februar 2022, weil wir nicht in einen unkalkulierbaren Krieg mit Russland geraten dürfen, wie der Politikwissenschaftler Prof. Johannes Varwick im HR anmahnt? Bei allem Wohlwollen, Verständnis und Daumen drücken für die Ukraine, und so sehr ich den Putin-Imperialismus und seinen unmenschlichen Angriffskrieg verurteile: Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich würde sie in etwa das Gleiche sagen, würden wird denn noch Telefonate führen.


067 [Inhaltsverzeichnis]

Bildlich gesprochen …

… macht anschaulich!

Moin. Die letzten Tage waren Sofa-Lese-Tage – teils dem Wetter, teils meinem Besucher Herrn Bechterew geschuldet. Na ja, es is eben wie’s is, Zeit um ein bisschen in der digitalen Welt zu stöbern.

Auf einer Seite unserer dänischen Nachbarn lese ich, ich nenne das Klagen auf hohem Niveau, dass Dänemark im The Digital Economy and Society Index (DESI) der EU nur noch auf Platz 2 steht. Nun muss das DK-Außenministerium seinen Text ändern 😉 Aber im Ernst: Solange unsere Nachbarn die Faxgeräte in BRD-Behörden als deutsche Email bezeichnen, kann es so schlimm nicht sein. Wir in Analog-Tyskland haben hingegen noch viel Luft nach oben. Sehr viel 😉

Lothar Wieler geht. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass er zum 1. April sein Amt als Präsident des Robert Koch-Instituts niederlegen wird. Für die einen war er eine wichtige Stimme der Vernunft, andere haben sich an ihm abgearbeitet – sehr häufig wider besseres Wissen. Dabei könnte man sich das aneignen … oder zumindest offen dafür sein. Das Zitat ist bestätigt, die neue Schreibweise seines Namens im Bildtext nicht 😉

Ach ja, das mit dem Wissen. Ich find’s schade, wenn sich Leute unbelehrbar zeigen und Fakten mit Meinung verwechseln. Und schlimm find‘ ich’s, wenn sog. alternative Fakten offensiv verbreitet werden. Einer der nicht müde wird, dagegen anzuschreiben, ist – u. a. – der Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin. Weil zuletzt mal wieder Fakes die Runde gemacht haben, hat er unlängst diese Grafik veröffentlich, mit dem Begleittest:
Nein: Die Klimakrise ist nicht natürlich und kommt nicht von der Sonne. Nein: Es gibt keinen Abkühlungseffekt. Die Erderhitzung wird immer schneller. Ja: Die #Erderhitzung ist dramatisch und existenzbedrohend!

Dieser Beitrag von ihm nebst Grafik stammt vom 1. Januar: Derzeit kann die Politik weder ihre eigenen Ziele aus dem #Klimaschutzgesetz noch das Pariser Klimaschutzabkommen einhalten. Das sind übrigens keine von ihm ausgedachte Zahlen, sondern die sind in allen seriösen wissenschaftlichen Arbeiten nachzulesen. Eine düstere Prognose, die uns doch allen zu Denken geben sollte. Und bitte: Wir sollten keine Wette auf die Zukunft eingehen, dass wir das alles mittels irgendwelcher Technologien schon irgendwie in den Griff kriegen werden und alles nicht so schlimm wird.

Auch diese Zahlen sind interessant, weil immer wieder – ideologisch – der Weiterbetrieb unserer verblieben drei deutschen Atomkraftwerke gefordert wird. Zum Vergrößern gerne auf die Grafik klicken. Ja, das sind ganz offizielle aktuelle Zahlen. Mit einem Text von Daniel Schwerd (Die Linke, ehemals Piratenpartei). Nun mag jeder für sich entscheiden, wie unverzichtbar die Kernenergie ist – oder ob wir nicht besser alles daran setzen sollten, die Erneuerbaren schleunigst auszubauen?

Irgendwie köstlich: Was wären wir ohne den US-amerikanischen Sender NBC und seiner Komödie The Office und der ZDF-heute-show? Irgendwie traurig: Das ist das miese rechtspopulistische Niveau deutscher Oppositionspolitiker:innen und zielt auf die niederen Instinkte. Oder gilt hier einmal mehr der Satz: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe?

So ist das, Bilder sagen manchmal mehr als tausend Worte. Aber nicht immer. Manchmal bedarf es auch der Worte, um Emotionen so auszudrücken, wie es kein Bild vermag. Ein gutes Beispiel dafür ist das ARD-Selenskyj-Interview von gestern. Beeindruckend. Nur das allein für sich genommen: Wer will den Ukrainern jetzt noch die Leopard-Panzer verweigern? Doch dieses Interview ist natürlich nur eine Momentaufnahme und die deutsche Gesellschaft zeigt sich nach dem jüngste ARD-Deutschlandtrend gespalten – mit deutlichen Meinungsunterschieden zwischen West- und Ostdeutschland und Jung und Alt. Tja, wir werden sehen. Demnächst bestimmt mehr dazu.


065 [Inhaltsverzeichnis]

Auf der Suche nach der roten Linie

… oder wie aus 5.000 Helmen 40 Marder-Schützenpanzer wurden …

Moin. Mehr als zehn Monate sind nun vergangen, seit Russland die Ukraine am 24. Februar 2021 angegriffen hat. Und ganz ehrlich: Wer hat seinerzeit daran geglaubt, dass sich die Ukrainer so vehement verteidigen, zu Opfern bereit sind und ihrem Präsidenten Selenskyj bedingungslos folgen? Na? Und wer ist davon ausgegangen, dass die Russen ihre Spezialoperation in ein paar Wochen erledigt haben würden?

Ich weiß nicht, was unsere Pannenministerin geglaubt hat, als sie im Vorfeld des russischen Angriffskrieges der Ukraine 5.000 Helme als „ganz deutliches Signal“ versprochen hat. „Ausrüstung statt Waffen“ hieß es und das war noch im Februar 2021 so etwas wie die rote Linie der Bundesregierung. Offiziell. Oder die des Bundeskanzlers Scholz. Wie auch immer. Der Rest ist Geschichte: Einer gewissen Logik des Krieges und der zugesagten Unterstützung folgend ist Deutschland nach diversen Waffenlieferungen an die Ukraine mittlerweile, seit gestern, bei zunächst 40 Marder-Schützenpanzern angelangt.

Dabei ist die rote Linie mehrfach verschoben worden und wir dürfen uns fragen, wo sie jetzt zu finden ist? Und wo morgen? Denn schon lange brodelte in der Politik ein Panzer-Streit und der dürfte mit der Forderung nach der Lieferung von Leopard-Kampfpanzern weitergehen. Und dann?

Nach dem jüngsten ARD-Deutschlandtrend hielt knapp jeder zweite Deutsche die bisherigen Waffenlieferungen an die Ukraine für angemessen. Die Umfrage wurde allerdings vor der Bekanntgabe der Schützenpanzer-Lieferung abgeschlossen. Ich bin auf die nächste Umfrage gespannt. Bisher folgten die Ergebnisse Pi mal Daumen dem Handeln der Bundesregierung. Die Argumente Für und Wider kann ich beide verstehen. Einerseits haben die Ukrainer alles Recht der Welt, sich zu verteidigen und sich besetztes Terrain zurückzuholen, koste es was es wolle, anderseits birgt natürlich jedes Verschieben der roten Linie seitens der NATO-Staaten zu immer schwereren Waffen hin auch eine gewisse Gefahr.

Allerdings, meine Meinung: Nach allem, was wir – damit meine ich uns als NATO-Staaten und allen voran die USA – bereits in die Ukraine geliefert haben, werden wir jetzt durch die Schützenpanzer aus Frankreich, den USA und eben auch Deutschland, nicht mehr zu Kriegsparteien, als wir es ohnehin schon sind. Außerdem entscheidet Putin, wer für ihn Kriegspartei ist und wer nicht. Und die US-Amerikaner um Präsident Biden entscheiden, in welcher Güte Waffen in die Ukraine geliefert werden. Denn auf die Frage, ob am Ende auch schwere deutsche Leopard-Kampfpanzer geliefert werden, soll Scholz geantwortet haben: „Ja, wenn es den Amerikanern militärisch sinnvoll erscheint.“

Tja, als Resümee bleibt, dass weiter gestorben wird. Die einen sterben für ihre – vielleicht auch unsere europäische – Freiheit, die anderen für das imperialistische Großmachtgehabe ihres Diktators. Das ist Politik. Und die Aktionäre der Rüstungsfirmen werden immer reicher. Das ist Wirtschaft. Habe ich etwas vergessen?


062 [Inhaltsverzeichnis]