75

Moin. Heute schreiben wir den 23. Mai: Das Datum muss nicht unbedingt jedem etwas sagen. Wie viele Männer vergessen den Geburtstag ihrer Frau? Und andersrum? Dann darf man auch den Geburtstag unser Bunten Republik vergessen. Aber das Jahr? Hallo?! Mich hat das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage gewundert, wonach nur 35% der West-, allerdings 43% der Ost-Deutschen das Geburts- oder Gründungsjahr 1949 wussten. Auch sonst war es um das Wissen unserer nunmehr 75-jährigen Bundes-Geschichte nicht so toll bestellt. Dann denke ich mir: Warum faseln Leute was von deutscher Leitkultur, wenn ihr Wissen über unser Land und unsere Geschichte so begrenzt ist?

Also, nun mal Butter bei die Fische 😉
– Wer waren die ersten beiden deutschen Staatschefs, also West und Ost?
– Wer wird mit dem Mythos des deutschen Wirtschaftswunders in Verbindung gebracht?
– Wer wollte mehr Demokratie wagen?
– Wie oft waren die Fußball-Männer Weltmeister und wie oft die -Frauen?
– Wie oft gewann Zero-Points-Germany den ESC?

Ja, es gäbe so viel zu fragen, zu hinterfragen und auch Gründe, sich zurückzubesinnen. Nein, nicht im Sinne von: Es muss sich etwas ändern, damit es wieder so wird wie es war. Nein, das ist Bullshit, früher war NICHT alles besser, wie man häufig von den Gestrigen hört. Jedenfalls nicht, wenn man die Fakten betrachtet: Die Bundesrepublik ist in 75 Jahren größer, wohlhabender, liberaler und multikultureller geworden. Die Kaufkraft ist zwischen 1949 bis zur Wiedervereinigung 1990 Pi mal Daumen um das Fünffache in Westdeutschland und seitdem noch einmal um rund ein Viertel in ganz Deutschland gestiegen. Auch die Lebenseinstellung der jüngeren Generationen scheint heute eine andere zu sein, Stichwörter Work-Life-Balance und Zukunftsorientierung – ihre Zukunft, nicht mehr die von uns Alten Älteren! Aber nach meinem Empfinden waren die Menschen früher genügsamer, geselliger und wenn man mal handwerkliche oder andere Hilfe brauchte, dann hat das viel besser geklappt als heute. Nun ja, jeder wird da so seine Erfahrungen & Meinungen haben. Aber vielleicht verkläre ich auch so’n bisschen die Vergangenheit.

Wir lassen Dinge, an die wir uns nicht so gerne erinnern,
automatisch verschwinden, ohne es zu merken, während

wir in der Erinnerung immer schon recht gehabt haben.

Geschichtsprofessor Valentin Groebner

Egal. Schauen wir nach vorne und ja, es müsste sich etwas ändern: Zum Positiven, unseren Kindern und Enkeln zuliebe. Das fordert auch unser Grundgesetz – und zwar eindeutig. Nur waren unsere Politiker nicht immer so eindeutig und deshalb musste unser Bundesverfassungsgericht im Laufe der Jahre so manches Mal eindeutiges Recht sprechen. Gelegentlich sehr zum Unwillen von dem ein oder anderen Politiker. Der damalige Präsident des BVerfG, Hans-Jürgen Papier (2002 – 2010), hat deshalb klargestellt:
Wer das Verfassungsgericht (dessen Entscheidungen) in Frage stellt, kann dieses gleich abschaffen. Wer ein Primat der Politik fordere, rüttle an den Grundstrukturen des Verfassungsstaats.
Jedenfalls wundere ich mich bisweilen über ganz offensichtlich dem Grundgesetz widersprechende Aussagen von populistischen Politikern – und damit meine ich nicht nur die der AfD! Auch manche boulevardeske Schlagzeile in großen Buchstaben gehört dazu. Ich fordere 😉 deshalb: Jeder Landtags- oder Bundestagspolitiker muss zu Beginn seiner ersten Legislaturperiode nach Karlsruhe pilgern und den Platz der Grundrechte (unweit vom BVerfG und Schloss) besuchen. Dergleichen Journalisten in ihrer beruflichen Ausbildung als Voraussetzung für einen Presseausweis.

Die Würde des Menschen ist unantastbar
mit diesem wuchtigen Bekenntnis beginnt unser Grundgesetz. Tja, schauen wir uns doch mal um:
– Wie häufig wird sie täglich angetastet – nicht nur in den asozialen Medien?
– Wie häufig sind wir (als Gesellschaft, du und ich natürlich nicht 😉 vorschnell mit unserem Urteil, vorverurteilen ohne Kenntnis der genauen Umstände?
– Wie oft wird täglich gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, sind die einen gleicher als die anderen?
Ja, Papier ist geduldig und wo’s keinen Kläger gibt, da gibt’s auch keinen Richter.

Du machst Menschsein einfacher.
Das schrieb eine Schülerin in ihrem Brief an das Grundgesetz, den sie am 31. August 2023 zum 75. Jubiläum der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rats im ehemaligen Plenarsaal des Bundesrats in Bonn vorlas. So steht’s im Museumsmagazin 4.2023. Sie war Teilnehmerin am Workshop
Die Freiheit, ich zu sein. Was das Grundgesetz mit mir zu tun hat.

Ein interessantes Thema, stellt unser Grundgesetz doch die unveräußerlichen & einklagbaren Grundrechte für Jedermann in den Vordergrund und regelt die zentralen Prinzipien unseres Zusammenlebens. Die Anerkennung dieser Regeln ist die Basis für unsere Streitkultur, auf dieser Basis werden Debatten geführt und Konflikte ausgetragen. Ohne diese Regeln hätten wir eine Anarchie – und die hat als Gegenform zur Demokratie noch nie nirgends funktioniert. Oder kennt jemand ein Beispiel? Wenn ich heute am 75. Jahrestag so schaue, dann ist gerade das Eintreten für unsere Demokratie eine essenzielle Voraussetzung, um die Zukunft mitgestallten zu können. Und die Herausforderungen sind groß – jedenfalls zu groß, zu komplex für einfache Antworten. Auch die haben noch nie funktioniert, sondern nur ins Chaos geführt.

Liebes Grundgesetz, ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute. Pass auf uns auf!


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Siehe auch bei Anjas Zwischenrufe: Demokratie – mehr als eine Idee