Aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr

Moin. Vielleicht kennt ihr das auch, aber ich hoffe nicht: Trigger-Momente, also wenn durch einen Trigger plötzlich ein intensives Wiedererleben vergangener Erlebnisse ausgelöst wird – auch Flashback genannt. Wenn ich nix gut können sollte, aber das kann ich spätestens seit meiner Herz-Bypass-OP sehr gut. Was aber nicht gut ist. Da haben demente Männer einen Vorteil: Sie können sich an nichts mehr erinnern und lernen jeden Tag neue Frauen kennen. Ich zitiere nur einen dementen Verwandten 😉 Der weiß aber nicht mehr, dass er das mal gesagt hat. Glaube ich.

Ein personifizierter Trigger, Auslöser, ist für mich der Liedermacher Reinhard Mey. Früher habe ihn weniger beachtet, seine Texte erschienen mir irgendwie zu (klein)bürgerlich. Hannes Wader bspw. war mir da lieber. Das änderte sich jedoch mit unserem gemeinsamen Schicksal, sein Sohn, mein Sohn, 2014, 2016 …. Er hat’s in seinen Liedern wie Drachenblut und Dann mach’s gut verarbeitet. Seitdem, wann immer ich Reinhard Mey höre, ist’s, als wenn … knips, einer das Licht einschaltet. Zurzeit ist wieder alles hell erleuchtet … und das im Radio gespielte Lied passt für mich:

Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, und welche Kraft mich einfach zwingt,
was ich nicht sehen will, zu seh’n? Was geh’n mich fremde Sorgen an,
und warum nehm ich teil daran, statt einfach dran vorbeizugehn?

… Refrain …
Du hast nicht gestohlen, nicht betrogen, und, wenn irgendmöglich, nicht gelogen.
Oder wenn, dann ist das wenigstens schon eine ganze Weile her, hast fast nie nach fremdem Gut getrachtet
und fast immer das Gesetz geachtet, aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr!

Das ist eines seiner alten Stücke, geschrieben vor über 50 Jahren und immer aktuell. Wie gehe ich mit dem um, was um mich herum passiert? Manchen Leuten gelingt es scheinbar gut, alles um sich herum ausblenden. Wat scher’n de Bock de Lämmer, seggen de Lüüd op Platt. Ja ja, das sind genau die Menschen, die später von nichts was gewusst haben wollen. Und drüber reden wollen sie schon gar nicht! Aber wehe, wenn deren Partikularinteressen tangiert sind, oh oh, dann könn’se ok mit de Fuust op’n Disch hauen 😉 Jedenfalls sind das so meine familiären Erfahrungen, inklusive mit meinen nicht mehr lebenden Großeltern. Ist das heute anders? Oder werden eines Tages unsere Enkelkinder auch von den Alten zu hören kriegen: Wir haben von nichts was gewusst …?

Hab ich das je zuvor gefragt, hab ich mir denn nicht selbst gesagt:
„Irgendwer kümmert sich schon drum. Irgendwer wird zuständig sein,
da misch dich besser gar nicht rein – und ausgerechnet du, warum?“

„Es ist fünf Minuten vor zwölf, wer es jetzt nicht verstanden hat, der versteht es nicht. Der hat nichts verstanden in der Schule im Geschichtsunterricht. … Jeder in diesem Land ist dazu aufgerufen, im Familienkreis und auf der Arbeit oder sonst wo, sich ganz klar zu positionieren.“ [Christian Streich – SC Freiburg PK am 18.01.24]

Hab‘ ich mir denn nicht selbst erzählt, dass meine Hilfe gar nicht zählt –
und was kann ich denn schon allein? Was kann ich ändern an dem Los,
ist meine Hilfe denn nicht bloß ein Tropfen auf den heißen Stein?

Das ist dann wohl die berühmte schweigende große Mehrheit aus der Mitte der Gesellschaft, die oft und besonders gerne von den (rechten) Populisten für eigene Zwecke beansprucht – oder missbraucht – wird.

Und doch kann, was ich tu‘ vielleicht, wenn meine Kraft allein nicht reicht,
in einem Strom ein Tropfen sein. So stark, dass er Berge versetzt –
sagt denn ein Sprichwort nicht zuletzt: „Höhlt steter Tropfen auch den Stein.“

Der gesamte Text als PDF in meiner Cloud. Tja, in einem Strom ein Tropfen sein … schön wär’s, aber um im feuchten Element zu bleiben, heißt’s oft genug: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Wenn dann Wahlen so ausgehen wie sie nicht ausgehen sollen, stehen alle im Regen und kommen, mit den Worten von Wolf Biermann, vom Regen in die braune Jauche. Dann heißt’s: Wie konnte das nur passieren?

Für mein inneres Ich wünsche ich mir dennoch, siehe Refrain, Ruhe trotz alledem zu finden. Besonders an Tagen wie diesen. Mein Sohn würde heute seinen 41. Geburtstag feiern – stattdessen mach‘ ich mich auf’n Weg zum Therapeuten. Seit der 5-Stunden-OP im letzten Jahr ist das alles intensiver geworden und ich muss wohl neu lernen, unter diesen Umständen mit den Flashbacks umzugehen. Wenn ich’s könnte, würde ich auch’n Lied schreiben, aber das würde wie Katzengejammer klingen 😉
Apropos Triggern: Mich nerven auch und ich arbeite an meiner Resilienz: Diese polarisierenden Trigger-Themen, die von Populisten wie Aiwanger, Merz, Söder, Wagenknecht und der ganzen braunen Rechts-Bagage gerne bespielt werden.

Grundsätzlich nehmen es diese Lautsprecher mit den Fakten nicht so genau. Hauptsache sie sind in den Nachrichten und die Talk-Medien greifen das auf, um es dann zu zerreden: Meldung, Gegenmeinung, Expertensicht. Hegel lässt grüßen: These, Antithese, Synthese. Leider gelingt es mir nicht, mich dem ganz zu entziehen und am Ende heißt es doch wieder: aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr!
Auf der anderen Seite: Meier wäre nicht Meier, würde er nicht immer wieder auf die Schlamassel um uns herum hinweisen: Wir halten’s doch in der Hand – mit dem Klima, den Faschisten, und so weiter. Selbst wenn meine Zeilen bloß ein Tropfen auf den heißen Stein sind – vielleicht werden sie Tropfen in einem Strom!

In dem Sinne:


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6 Gedanken zu “Aber deine Ruhe findest du trotz alledem nicht mehr

  1. smswp 22. April 2024 / 9:30

    Guten-Morgen-Grüße aus deiner alten Heimat.
    Acht Jahre ist das schon wieder her – wie die Zeit vergeht.
    Der Streich-Satz: „Es ist fünf Minuten vor zwölf, wer es jetzt nicht verstanden hat, der versteht es nicht.“ ist richtig und wichtig – stattdessen lädt die ARD – die gebürtige Ilsederin Caren Miosga – den AfD-Chef Chrupalla in ihre Talk-Show ein und der bekommt viel Raum zur Selbstinszenierung als freundlicher Maler von nebenan. Korruption, Rassismus oder Frauenfeindlichkeit in der eigenen Partei? Weiß Chrupalla angeblich nichts drüber. Warum der Miosga angesichts des Sendungsverlaufs nicht ihr Lächeln verging, wird für mich ihr Geheimnis bleiben. /S. 📞 later

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    • Meier Sven 25. April 2024 / 14:40

      Anmerkung für Leser, warum mein Freund S. das mit der „gebürtigen Ilsederin Caren Miosga“ geschrieben hat: Miosgas waren die Nachbarn der Eltern bzw. meiner Ex.

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  2. Stella, oh, Stella 22. April 2024 / 21:20

    Lieber Sven, das ist genau der Grund, warum ich mich in meinem Blog hauptsächlich auf Respekt für alles Leben, weg mit Etiketten und Schubladen sowie geistige Entwicklung konzentriere. Einen Tropfen zur Zeit. Denn, es ist manchmal nicht machbar, sich eindeutig zu positonieren, wenn man von allen Seiten angelogen und ausgenutzt wird, und man mit niemandem von den so genannten Entscheidern oder Influencern einig ist.

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    • Meier Sven 25. April 2024 / 14:43

      Moin Stella. Ja … und wir verstehen uns. Selbst wenn wir nicht immer einer Meinung sein sollten, was nicht schlimm ist und wir es ehrlich meinen.
      Grüße ins Nachbarland, wir lesen uns!

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      • Stella, oh, Stella 25. April 2024 / 15:03

        Immer einer Meinung sein finde ich nicht so wichtig, ehrlich ist viel wichtiger. Man kann sich trotzdem verstehen. Ich meine, selbst wenn man verstehen kann, warum jemand seine Meinung hat von dort wo derjenige steht, führt das nicht unbedingt zu einer Meinungsänderung, denn ich stehe ja woanders. Das finde ich in Ordnung so.

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